Die Predigt im Wortlaut:
Die Weisheit Asiens erzählt von einem Mann, der beim Anblick seines eigenen Schattens so sehr Angst bekam, dass er versuchte, ihn hinter sich zu lassen, ihm einfach davonzulaufen. Aber der Schatten folgte ihm. Er lief schneller und schneller. Er lief so lange, bis er tot zusammenbrach.
Die Weisheit Asiens sagt: Wäre der Mann in den Schatten eines Baumes gegangen, so wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden. Aber auf diesen Gedanken kam er leider nicht.
Die Flucht vor dem eigenen Schatten! Wer hat nicht schon das Gefühl gehabt, dass Leid, Existenzangst, Trauer, die Tatsache des Todes uns verfolgen wie der eigene Schatten.
Im Blick auf diesen Tag und den Besuch der Gräber sagte in diesen Tagen ein junger Mensch zu mir: „Ich kann nicht auf den Friedhof gehen. Da bekomme ich Angst!“ Viele Menschen – und nicht nur jüngere – meiden diesen Ort und alles, was an Tod, an Leid, an die Begrenzung unserer irdischen Lebenszeit erinnert. „Da gehe ich lieber spazieren und denke an was Schönes!“ Was unternehmen wir nicht alles, um uns abzulenken, um uns ein grenzenlos schönes, unbelastetes Leben vorzugaukeln?
Und wenn der Tod sich dann doch im Kreis der Familie, der engsten Freunde, im nächsten Umfeld in unser Leben drängt, dann muss er kaschiert, verharmlost werden durch eine möglichst harmonische Gestaltung des Abschieds. Aber selbst, wenn alle Lieder, Texte und Zeichen so gewählt werden, wenn wir z.B. beim Begräbnis keine Erde mehr verwenden, um auf die Vergänglichkeit hinzuweisen, und wenn wir auch das Kreuz weglassen würden, auch wenn wir noch so krampfhaft versuchen, dem für uns Menschen immer schrecklichen Ereignis des Todes die Spitze zu nehmen: Der Tod bleibt hinter uns wie ein Schatten!
Wir können die Augen verschließen, den Kopf in den Sand stecken; wir können so tun, als würde es uns nicht berühren, als sei nichts gewesen und wir schnell wieder zur Tagesordnung übergehen. Wir können vielleicht auch für Tage und Stunden sentimental oder depressiv werden. Dennoch: Der Tod mit seinem Schrecken bleibt uns auf den Versen – wie der Schatten.
„Es ist zum Davonlaufen!“, so geht es uns manchmal über die Lippen, wenn wir uns über den Tod eines lieben Menschen unterhalten. Davonlaufen rettet nicht. Der Schatten ist uns auf den Fersen, er folgt uns mühelos, bis wir uns schließlich totlaufen. Wir müssen uns ihm stellen. Aber wie?
Manche sind im Laufe ihres Lebens gereift und können mit dem Leben, auch mit den kranken, schwachen, gebrechlichen, leidenden, sterbenden Erfahrungen und deshalb auch mit dem Tod umgehen. Immer mehr aber versuchen, diese Schattenseite des Lebens auszublenden.
Was hilft uns also, mit unserem Schatten, dem Tod, umzugehen?
Die Geschichte aus der Weisheit Asiens erzählt: Wäre der Mann in den Schatten eines Baumes gegangen, so wäre er seinen eigenen Schatten losgeworden. Aber auf diesen Gedanken kam er nicht.
Kämen wir auf diesen Gedanken – hier, jetzt, und an jedem Tag unseres Lebens, gerade an den schweren Tagen, wenn der Tod sich bemerkbar macht? Gibt es für uns diesen Baum, der uns mit unserem Todes-Schatten aufnimmt?
Unsere Vorfahren, die diesen Friedhof angelegt haben, haben in der Mitte ein großes Kreuz errichtet, das seit Jahrzehnten nun hier auf dem Platz vor der Aussegnungshalle steht. Jedes Mal, wenn wir einem Sarg von der Aussegnungshalle zur Grabstätte begleiten, schauen wir auf das Kreuz, auf Jesus Christus. Er ist nicht geflohen – weder vor den Schatten der Welt noch vor dem Schatten des Todes. Nichts ist ihm erspart geblieben, auch nicht der Tod am Kreuz. Der gekreuzigte Gott – unter seinem Kreuz finden wir den Platz, in dem die Schatten verschwinden, die uns ängstigen.
Hier haben wir einen Ort, wo wir stehen können – auch mit unserer Angst vor dem Tod. Das ist wie eine Erlösung, wie ein Befreiung. Darum besingen wir bei unseren christlichen Begräbnissen das Kreuz als Baum des Lebens. Unter diesem Baum sind wir geborgen und brauchen nicht – wie von einer Heiden-Angst gejagt – vor unserem Schatten davonzulaufen.
In Puente la Reina, so heißt das kleine Städtchen auf dem Camino, dem Jakobusweg in Nordspanien, kommen alle bis dahin verschieden verlaufenden Pilgerwege zusammen zu einem Weg. In der Kruzifix-Kirche in Puente la Reina hängt ein wunderschönes, überlebensgroßes, uraltes Kreuz – vermutlich aus dem Jahr 1325 mit einem Kreuzbalken wie ein Y.
Dieses Kreuz beinhaltet für mich mehrere wichtige Botschaften. Die eine steckt in der Tatsache, dass die unterschiedlichen Wege der Pilger dort zusammenlaufen. Darauf deutet die Form des Y hin. Ich deute das so: Wenn unsere irdischen Lebenswege bei ihm, dem Herrn des Lebens zusammenlaufen, dann stehen wir alle in seinem Schutz, können in seinem Schatten leben und unseren Weg weitergehen.
Eine andere Botschaft ist das Kreuz selbst, das ein Künstler aus dem Rheinland wie einen Baum geschaffen hat. Wie aus einem Baum Früchte hervorwachsen und wie er Schatten gibt, so erwächst aus dem Kreuz Jesu neues Leben. Der Gekreuzigte nimmt uns an. In seinem Schatten können wir leben – ohne Angst. Er verheißt uns neues Leben.
Gott selbst, so berichtet uns der Johannesevangelist, hat, um uns zu retten, um uns die Angst vor dem Untergang und dem Tod zu nehmen, den Baum des Kreuzes in die Erde eingepflanzt. Wer an Gott glaubt, der braucht nicht zu verzweifeln. Er braucht nicht zu versinken in den Abgründen von Trauer und Ohnmacht.
Alle, die immer wieder – das ganze Jahr über – hierherkommen auf unseren Friedhof, sie mögen bewusst auf das große Kreuz blicken als das Zeichen Gottes, das Zeichen seiner Rettung. Sie mögen auf den Hinweis blicken, dass er uns Schatten schenkt, damit wir Halt haben, damit wir Kraft und neuen Mut zum Leben schöpfen können.
Alle, die vielleicht erst in einem Jahr wieder hierherkommen, sollten sich daheim einen Platz schaffen, der sie an diese Rettung erinnert. In den alten Häusern gab es einen Herrgottswinkel. In der Stube, dort wo sich die Familie versammelt, hing über der Ecke das Kreuz. Es war und ist Zeichen, dass alle in seinem Schutz leben und in seinem Schatten alle Lebensangst vergeht. Deswegen finden wir in den Stuben der alten Häuser im Herrgottswinkel immer auch die Bilder der Verstorbenen. Mit ihnen zusammen können wir in seinem Schatten leben.
„Mitten in dem Leben sind wir vom Tod umfangen.“ Weiß Gott, das ist bitter wahr! Mitten im Leben sind wir umfangen von dem für uns Menschen unheimlichen Tod. Im Blick auf die Auferweckung des Gekreuzigten, unter dem Baum des Lebens, gilt aber nicht minder dies: „Mitten in dem Tode sind wir vom Leben umfangen“, von seinem Leben, von Gott selbst. Das ist unsere Hoffnung.
Ich hoffe, es ergeht uns nicht wie dem Mann, von dem die Weisheit Asiens erzählt, der immer schneller lief, um seinen Schatten loszuwerden, bis er schließlich erschöpft tot zusammenbrach. Ich wünsche uns, dass – wenn uns der Gedanke an den Tod, an unsere Begrenztheit verfolgt – wir spätestens dann auf den Gedanken kommen, uns in den Schatten des Kreuzes zu stellen. Es ist wie ein Lebensbaum für uns!
Aber, damit dieser Gedanke uns dann wirklich nahe ist, sollten wir das Jahr, das ganze Leben über das Kreuz, den Gekreuzigten und seine tröstliche Botschaft nicht aus den Augen, aus dem Herzen verlieren.
Bevor wir nachher wieder zur Tagesordnung übergehen und nachhause eilen möchten, gebe ich Ihnen die Anregung: Gehen Sie heute einmal bewusst vom Grab der eigenen Familie weg auch an die Gräber der Menschen, mit denen wir verbunden, die uns nahe waren, um dann auf das große Kreuz hier auf unserem Friedhof zu blicken mit all denen im Herzen, an die wir gedacht haben. Sie und uns alle stellen wir somit ganz bewusst in seinen Schatten! Dann können wir getrost und zuversichtlich unseren Weg weitergehen – ohne davonrennen zu müssen, wie der Mann, von dem die Weisheit Asiens erzählt.
Domkapitular Clemens Bieber
www.caritas-wuerzburg.de